Kulturgeschichte des Suizids

Ein Mensch stirbt. Ein natürlicher Vorgang, ein unabwendbarer, im Leben eines jeden. In allen Epochen hat es aber immer jene gegeben, die den Akt des Sterbens beschleunigt und in eigener Regie durchgeführt haben. Der Tod von Hannelore Kohl ruft das Thema Freitod nun wieder auf die Agenda. In den verschiedenen Kulturen wurde der Selbstmord befürwortet, geduldet oder abgelehnt. In Europa war Selbsttötung mal Pflicht, Privileg und Mittel zur Ehrenrettung, dann wieder Verbrechen, Sünde und oft tabu. Es lohnt sich, den Blick auf die Kulturgeschichte eines traurigen Phänomens zu werfen.

Als der Philosoph Seneca von Kaiser Nero des Hochverrats beschuldigt wird, trinkt er mit stoischer Gelassenheit den Giftbecher. In der Antike gilt bei den Stoikern die Selbsttötung als Pflicht, wenn der Mensch sein Leben nicht vernunftmäßig führen kann - wegen Krankheit, Armut, Tyrannenherrschaft. "Fragst du nach dem leichtesten Weg zur Freiheit: Jede Ader deines Körpers ist ein solcher'', erklärt Seneca. Dieser Ansicht stellen sich Platon und Aristoteles entgegen, sie verurteilen den Suizid als Eingriff in das Recht der Götter, als Verletzung der Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Im Mittelalter wird Selbsttötung als Todsünde eingestuft: Sie gilt als Verbrechen gegen Gott. Der unverzeihliche Mord - als Verstoß gegen das sechste Gebot - führt in die Verbannung. Die Konzilien des fünften Jahrhunderts verbieten Totenmesse und Begräbnis in geweihter Erde, denn der Selbstmörder ist "diabolico repletus furore'', vom Teufel besessen. Dem stehen die Kreuzzüge des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts als wahre Selbstmordexpeditionen gegenüber. Bischof Ivo von Chartres fordert heilige Märtyrer und verspricht ihnen den Weg ins Himmelreich.

Diese Ambivalenz wird in der Neuzeit teilweise aufgelöst, die Humanisten plädieren für Mitleid mit der armen Seele voller Melancholie mit dem Körpersaft "von dicker Konsistenz, kalt und trocken''. Zur medizinischen Betrachtung gesellt sich während der Aufklärung die psychologische. Der Mensch, so erklären Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und David Hume, habe auf Grund seiner Vernunft ein Recht auf seinen Tod: Ist ein Mitglied der Gesellschaft für diese nicht mehr von Nutzen, solle es sich von ihr trennen - im Interesse aller.

Als 1774 "Die Leiden des jungen Werther'' erscheinen, löst Goethes Roman eine Selbstmordwelle aus. Das Bildungsbürgertum eifert dem Helden nach, der dem sozialen Fauxpas und der hoffnungslosen Liebe mit dem Freitod entkommt. Schillers "Kabale und Liebe'' sowie Lessings "Emilia Galotti'' stehen als Ideale für den Tod als selbst gewählten Ausweg aus gesellschaftlichen Zwängen. Vom Sturm und Drang bis zur Romantik ist der Freitod kaum tabubeladen. Er gilt als göttliche Natur. Das geistige Klima ermöglicht eine liberale Haltung.

Wirtschaftskrisen, Hungersnöte und Verarmung im Zuge der Industrialisierung nehmen dem Suizid im 19. Jahrhundert die emotional-ästhetische Überhöhung. Im zwanzigsten Jahrhundert mit seinen diversen politischen Systemen häufen sich die Fälle: Dem nationalsozialistischen Terror kommen rund 5000 Juden zuvor und legen selbst Hand an. In der DDR wiederum gibt es offiziell keinen Selbstmord. Der Akt wird verheimlicht, gilt als rechtliches Delikt und Staatsverrat. Hinterbliebene werden von der Stasi bespitzelt.

Die Liste der prominenten Selbstmörder ist lang: Von Kleopatra und Casanova über Heinrich von Kleist und Vincent van Gogh bis hin zu Ludwig II. von Bayern, Kurt Tucholsky und Marilyn Monroe. Die Forscher wissen heute, dass kein genetischer Defekt der Auslöser und die Neigung nicht vererbbar ist. Der Selbstmord wird oft als Skandal interpretiert - oder mit ratlosem Schulterzucken abgetan. Der Mensch entzieht sich durch die Selbstauflösung, was den Tötungsakt unnahbar, mythisch und grausam macht. Wer sich umbringt (oder wer es versucht), wird verachtet und entmündigt. Wer von der Norm abweicht, erntet Antipathie anstatt Akzeptanz, selten Verständnis. Selbstmord ist keine mögliche Todesart, sondern eine unanständige.

Alle 40 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben. Anonymität, Trennung, Alt- oder Singlesein und Arbeitslosigkeit sind die Auslöser in unserer Zeit. Außerdem: sich zu Tode bulimierende Mädchen, S-Bahn-Surfer, Amokläufer. Und: Abenteuerurlauber, Extremsportler. Aber auch: Alkohol-, Nikotin-, Drogenabhängige. Selbstmord, ob mit sofortiger oder späterer Wirkung, ist in Deutschland straflos.

Die Freiheit des Menschen ist unantastbar, doch ein Recht auf Suizid gibt es nicht. Das Leben zu lassen muss Bestandteil der Freiheit sein, wenn Weiterleben nur unter unwürdigen Umständen möglich ist; wenn soziale, wirtschaftliche, politische Zustände lebensmüde machen; wenn das frei gewählte Sterben eine Qual beendet. Ziel von Staat und Gesellschaft muss es allerdings sein, bestmögliche Verhältnisse zu schaffen. Und doch hat der freie Bürger die Wahl, die innere Freiheit - vorausgesetzt, er ist autonom in der Entscheidung, kann sie reflektieren, ist sich der Handlung bewusst, nicht verwirrt. Der selbstbestimmte Tod als anthropologisch angemessene Tat muss möglich sein, doch nur als letzter Ausweg. Er verdient Respekt im Sinne von Stefan Zweig: "So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen."

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